Wissenschaftliche Erklärungen

Dritte Runde in der Ringvorlesung Methoden der quantitativen Sozialforschung an der Universität Leipzig. Diesmal präsentiert uns David Hardecker vom Institut für Philosophie etwas zum Thema Wissenschaftliche Erklärungen. Erklärungen sind notwendig, um die oftmals gesuchte Ordnung in Dinge zu bringen. Dabei lassen sich einerseits allgemeine Dinge (Phänomene, Eigenschaften und Gesetze), andererseits singuläre Ereignisse erklären. Die verschiedenen Dinge stehen dabei in einer Hierarchie von Allgemeinheitsgraden zu einander. Beginnend mit einem einzelnen Ereignis lassen sich Ereignistypen zusammenfassen und darauf aufbauend empirische und theoretische Gesetze formulieren. Das allgemeine Schema einer Erklärung ist, dass ein Explanans ein Explanandum erklärt.

Das Explanandum – Was wird erklärt?

Die Erklärung eines singulären Explanandums, d.h. eines bestimmten Ereignisses, ist in der Regel vom Kontext abhängig. Beispielsweise lässt sich die Frage „Warum flog Micha am Montag nach Madrid?“ auf ganz unterschiedliche Arten beantworten. Je nach Kontext kann der Fokus auf dem Wochentag liegen, d.h. es wird danach gefragt, warum der Flug am Montag ging. Andererseits ist es auch möglich, nach dem Ort zu fragen, d.h. warum es gerade nach Madrid ging.

Einen pragmatischen Ansatz liefert van Fraassen (1988): Eine Erklärung ist die Antwort auf eine Warum-Frage. Es ist allerdings festzuhalten, dass wissenschaftliche Erklärungen kontextfrei sein sollen. Daher gelten Erklärungen für ein spezifisches singuläres Explanandum in der Regel nicht als wissenschaftlich.

Im Gegensatz zu einem singulären Explanandum erklärt ein allgemeines Explanandum kein spezifisches Ereignis sondern bestimmte Phänomene oder empirische Gesetze.

Das Explanans – Was erklärt?

Bei der Frage danach, womit ein Ereignis adäquat erklärt werden kann, ist die Unterscheidung zwischen singulärem und allgemeinem Explanandum zurückzugreifen.Generell lässt sich festhalten, dass in der Wissenschaft der sogenannte deduktiv-nomologische Ansatz nach Hempel und Oppenheim (1948) zum Tragen kommt. Dieser besagt, dass sich ein Ereignis deduktiv aus der Angabe gewisser Naturgesetze sowie Randbedingungen ableiten lässt und damit erklärt werden kann. Der Ansatz ist in der Form strukturiert, dass ein Argument aus Prämissen (den Gesetzen und Randbedingungen) besteht, von denen aus auf eine Konklusion (das zu erklärende Ereignis) geschlossen wird. Ein Ereignis B kann beispielsweise dadurch erklärt werden, dass ein Gesetz „A → B“ und die Randbedingung „A ist eingetreten“ angegeben werden.

Singuläres Explanandum

Um ein singuläres Explanandum zu erklären, ist es notwendig sowohl Allgemeines (die Gesetze) als auch Singuläres (die Randbedingungen) anzugeben. Beispielsweise kann das Ereignis, dass ein bestimmtes Ruder unter Wasser optisch abgeknickt erscheint wie folgt erklärt werden. Die anzugebenden Gesetze sind das Brechungsgesetz und die optische Dichte. Die Randbedingungen, die eintreffen müssen,sind dann zunächst, dass ein Teil des Ruders unter Wasser und ein anderer Teil in der Luft ist. Darüber hinaus muss das Ruder ein gerades Stück Holz sein.

Eine weitere Möglichkeit, mit deren Hilfe ein singuläres Explanandum erklärt werden kann, ist die Nutzung statistischer Erklärungen. Dabei wird als Gesetz eine statistische Aussage der Form „A → B mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit p“ angegeben. Mit statistischen Erklärungen lassen sich Ereignisse nicht immer zwingend erklären, sie erklären also weniger stark. Allerdings sind sie trotzdem sinnvoll, da sie auch weitere Untersuchungen ermöglichen, z.B. die Beantwortung der Frage, warum etwas zu 20% gilt.

Der Ansatz der invarianten Generalisierungen beruht auf der Diskussion darüber, was überhaupt Gesetze sind und wann Gesetze uns Erklärungen liefern können. Im Rahmen dieses Ansatzes werden Gesetze als kausale Aussagen angesehen, die die Frage nach dem Gegenteil mittels kontrafaktischer Aussagen ermöglichen. Ein Beispiel für einen solchen Ansatz zur Erklärung liefert Joiner (2005). Dort werden drei Faktoren identifiziert, die für die Suizidneigung eines Menschen von Relevanz sind. Ist nun einer der Faktoren nicht erfüllt, muss die Suizidneigung sinken.

Allgemeines Explanandum

Ein allgemeines Explanandum wird durch etwas Allgemeines erklärt, z.B. wird ein empirisches durch ein theoretisches Gesetz erklärt. Die Erklärung kann dabei durch Angabe eines kausalen Mechanismus oder durch die Subsumption unter ein allgemeineres Gesetz. Ein kausaler Mechanismus nach Glennan (2002) und Bechtel & Abrahamsen (2005) stiftet ein Gesetz und besteht aus Komponenten, einer kausalen Interaktion, einer Organisation und einem Phänomen-Bezug. Um einen Mechanismus zu beschreiben, wird in der Regel ein Modell genutzt. Bei jeder Erklärung ist darauf zu achten, dass sie auf der richtigen Ebene erfolgt. Die Wahl der richtigen Erklärungsebene ist dabei einerseits abhängig vom Interesse daran, was erklärt werden soll. Andererseits muss eine Antwort aber auch ökonomisch sein; eine Erklärung auf zu niedrigerer Ebene wird z.B. zu komplex.

Wird etwas durch die Subsumption über ein allgemeineres Gesetz erklärt, bedeutet dies, dass ein konkretes Gesetz (z.B. Alle Menschen sind sterblich.) auf ein allgemeineres zurückgeführt wird (Alle Lebewesen sind sterblich.). Dabei sind in der Regel noch weitere Randbedingungen anzugeben (Menschen sind Lebewesen.). Die Frage, woher man weiß, ob ein bestimmtes Gesetz allgemeiner als ein anderes ist, lässt sich allerdings nicht ganz einfach beantworten. Hier muss oftmals auf die Intuition vertraut werden. Es ist aber auch möglich, auf bestehende Klassifikationen (wie z.B. die der Biologie) zurückzugreifen.

Erklärungsstärke

Jede Erklärung steht in einem gewissen Spannungsfeld zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, d.h. je mehr Phänomene mit einer Erklärung beschrieben werden, desto weniger präzise ist diese Erklärung. Dieses Spannungsfeld kann auch als Kompromiss zwischen dem empirischen Gehalt (ein Ereignis soll möglichst genau und präzise erklärt werden) und der globalen Invarianz (eine Erklärung soll mehrere Ereignisse beschreiben). Der Bereich, in dem eine Theorie gilt, wird funktionale Invarianz genannt.

Im Allgemeinen lässt sich festhalten, dass eine Theorie, die viel vereinheitlicht, auch viel erklären kann (Vereinheitlichungsansatz nach Friedman (1974), Kitcher (1981)). Allerdings stellt sich dann die Frage, welche Vereinheitlichungen sinnvoll sind und warum bestimmte Kombinationen zusammengefasst werden. Wenn einer Vereinheitlichung keine korrekte Theorie zugrunde liegt, besteht die Gefahr der Pseudo-Vereinheitlichung, d.h. es werden Phänomene zusammengefasst, die nicht zusammengehören.

Zum Vergleich verschiedener Theorien über einzelne Ereignisse (d.h. also, um die Erklärungsstärke einer Erklärung eines singulären Explanandums zu bewerten), lassen sich verschiedene Kriterien aufstellen. Als sogenannte Erklärungskohärenz sind dies die Kriterien Konsistenz, Erklärungsbeziehungen und Erklärungsanomalien. Dabei sollte alles Wissen über ein bestimmtes Explanandum zusammengebracht werden.

Grenzen wissenschaftlicher Erklärungen

Eine erste und eindeutige Grenze ergibt sich dadurch, dass zufällige Ereignisse im Gegensatz zu Regelmäßigkeiten nicht erklärt werden können. Aber auch die verschiedenen Ansätze zur Erklärung stehen vor verschiedenen Herausforderungen, die zum Abschluss noch kurz angerissen werden sollen.

Erklärungen mittels kausaler Mechanismen benötigen irgendwann eine fundamentale Ebene, da sie reduktiv erklären. Fraglich ist allerdings, ob es diese Ebene tatsächlich immer gibt. Beispielsweise lassen sich soziale Institutionen auf Organismen mit Bewusstsein, diese auf Organismen, auf Moleküle und wiederum auf mikrophysikalische Gegebenheiten reduzieren. Hier bleibt unklar, ob dies die letzte Eben ist. Im Gegensatz dazu bilden Erklärungen mittels allgemeiner Gesetze immer größere Kategorien, die an einem bestimmten Punkt inhaltsleer werden. Auch sogenannte ätiologische Erklärungen, d.h. die Angabe allgemeiner Ursachen, ist problematisch, da sie auf bestimmte Quellen angewiesen sind und sich die Frage nach der Vollständigkeit dieser Quellen zeigt.

Referenzen

  1. Van Fraassen, Bas C. „The pragmatic theory of explanation.“ Theories of explanation (1988): 135-155.
  2. Hempel, Carl G., and Paul Oppenheim. „Studies in the Logic of Explanation.“ Philosophy of science 15.2 (1948): 135-175.
  3. Joiner Jr, Thomas E., Jessica S. Brown, and LaRicka R. Wingate. „The psychology and neurobiology of suicidal behavior.“ Annu. Rev. Psychol. 56 (2005): 287-314.
  4. Glennan, Stuart. „Rethinking mechanistic explanation.“ Philosophy of Science 69.S3 (2002): S342-S353.
  5. Bechtel, William, and Adele Abrahamsen. „Explanation: A mechanist alternative.“ Studies in History and Philosophy of Science Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 36.2 (2005): 421-441.
  6. Friedman, Michael. „Explanation and scientific understanding.“ The Journal of Philosophy 71.1 (1974): 5-19.
  7. Kitcher, Philip. „Explanatory unification.“ Philosophy of Science (1981): 507-531.

Weiterführende Literatur

  1. Bartelborth, Thomas. Erklären. Walter de Gruyter, 2007.
  2. Nagel, Ernest. The structure of science: Problems in the logic of scientific explanation. Hacket, 1979.
  3. Pitt, Joseph C. Theories of explanation. Ed. Joseph C. Pitt. New York, NY: Oxford University Press, 1988.

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