Roberto Bolano – Amuleto

Ijoma Mangold in der Zeit vom 10.09.2002: „Roberto Bolano ist die große weltliterarische Entdeckung der vergangenen zehn Jahre.“ Grund genug also mit einem kleinen Werk von Bolano anzufangen und dieser Aussage auf den Grund zu gehen.

Nach dem 1700-Seiten-Mammutwerk Parallelgeschichten von Péter Nádas war es angebracht, mal wieder ein kleineres aber nicht minder hochgelobtes Buch zu lesen. Die Rede ist von Roberto Bolano, der mit Amuleto eine ganz eigene Beschreibung der 1968er in Mexico City vorlegt. Bolano selbst wurde 1953 in Santiago de Chile geboren und siedelte mit seiner Familie 1966 im Alter von 13 Jahren nach Mexiko über. 1973 geht er zurück nach Chile, um Salvador Allende zu unterstützen. Doch die Freude über den demokratischen Aufbruch währte nur kurz bis zum Pinochet-Putch im gleichen Jahr. 1974 schließlich kehrt Bolano nach Mexiko zurück.

Amuleto setzt 1968 in Mexiko an und beginnt mit einer Beschreibung der kommenden Geschichte. Es wird eine Horrorgeschichte, eine Verbrechergeschichte, die erzählt wird von Auxilio Lacouture; der Mutter der mexikanischen Poesie. In dieser Rolle erzählt sie uns von ihrem Leben mit den Dichtern Mexikos, mit denen sie nachts in Bars diskutiert. Das Schlüsselereignis, das den Roman einleitet, ist der Sturm auf die Universität Mexiko am 18.09.1968. An diesem Tag ist Auxilio auf der Damentoillete und übersteht die Erstürmung unentdeckt. In der Zeit, in der sie sich versteckt, lässt sie ihr bisheriges und auch ihr kommendes Leben Revue passieren.

1970 lernt sie Bolanos Alter Ego – Arturo Belano – kennen und wird eine Freundin der Familie. Mit ihm erlebt sie nach seiner Rückkehr aus Chile die bereits angesprochene Verbrechergeschichte und stattet der Unterwelt in Gestalt des Stricherkönigs von Guerrero einen Besuch ab. Hier kann der im chilenischen Putsch gestärkte Belano den König mit der Kraft der Literatur bezwingen. Eine wunderbare Entfernung von der ansonsten recht gewalttätigen Zeit.

Neben Bolanos Alter Ego treten weitere zeitgenössische Personen auf. So trifft Auxilio auf die katalanische Malerin Remedios Varo, die Poetin Lilian Serpas, die von ihrer Affäre mit Che Guevera berichtet. Außerdem ihren Sohn, den Maler Carlos Coffeen Serpas, auf den sie eine Nacht lang einredet woraufhin er ihr im Morgengrauen die Geschichte der Erigone aus der griechischen Mythologie erzählt.

Die Struktur der Erzählung wird immer wieder unterbrochen und wir kehren in die Universität Mexiko im Jahr 1968 zurück. Hier versteckt sich Auxilio immer noch auf der Damentoillete und leidet langsam aber sicher an Hunger. Der zunehmende körperliche Verfall spiegelt sich auch in den Erzählungen wider, die von realistischen Anekdoten in immer größere Traumsequenzen abdriften, die zum Ende hin jeglichen Bezug zur Realität verloren haben. Hier sticht besonders das vorletzte Kapitel hervor, in der Auxilio ein Zwiegespräch mit einer Traumgestalt führt und über die Zukunft der Poesie in dem Sinne philosophiert, dass sie prophezeit, welche Autor_innen wann wiedergeboren und wie sie in Zukunft gelesen werden. Ein kleines Beispiel für diese phantastische Reise durch die Zeit:

Im Jahre 2159 ist Majakowski wieder groß in Mode. Im Jahre 2124 wird James Joyce als chinesisches Kind wiedergeboren. Im Jahre 2101 wird sich Thomas Mann in einen ecuadorianischen Apotheker verwandeln.

Bolano schreibt – wie der kleine Ausschnitt zeigt – flott und auf den Punkt, ohne jedoch auf Details zu verzichten. Dadurch ergibt sich ein spannendes Lesevergnügen, das vor allem durch seine Mischung real existierender und erfundener Figuren fesselt. Durch die Auflösung der Realität im zwölften und im 13. Kapitel wird die zunehmende Verzweiflung von Auxilio während ihrer Zeit in der Universität plastisch greifbar und so fügen sich diese vom Stil her doch etwas abweichenden Kapitel auch in das Gesamtbild des Buches ein. Damit gelingt Bolano ein kurzweiliges Buch, welches durch seine vielen Referenzen auf spanische und lateinamerikanische Literatur aber auch zum längeren Verweilen anregen kann.

Roberto Bolano – Amuleto, erschienen 2002 bei Kunstmann. 168 Seiten. 16,90 Euro.


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