Wie hätten Sie Ihr Theater denn gerne? „Der große Marsch“ in der Diskothek

Zwei Damen, 13 Herren, ein Kind, eine Gruppe echter Sozialhilfeempfänger, 21 mongoloide Kinder, 50 wunderschöne Frauen – das steht in der Besetzungsliste. Dazu kommen noch Regieanweisungen, die das Maß alles spielbaren sprengen. Beispiel gefällig: „Der Arbeitgeberpräsident Her Hundt tritt auf (er darf nicht von einem Schauspieler ersetzt werden)“. Ganz klar, hier haben wir es mit einer Vorlage zu tun, die einen spannenden Theaterabend garantiert. Der Große Marsch von Wolfram Lotz (Jahrgang 1981) scheint eine Herausforderung zu sein, der sich Sebastian Hartmann nur zu gerne gestellt hat. Nachdem sich seine Inszenierung in die Intendanz Lübbe gerettet hat (zum Glück!), haben auch wir es nun endlich geschafft und konnten am 12.01. in den Genuss kommen.

Da Der Große Marsch als Studioproduktion gezeigt wird, haben die Schauspielstudierenden der HMT das Vergnügen, Lotz unspielbares Stück zu spielen. Und – das sei schon mal verraten – um die Zukunft der Zunft müssen wir uns in Leipzig wohl keine Sorgen machen. Denn restlos alles, was da auf der „Bühne“ kreuchte und fleuchte, konnte überzeugen. Apropos Bühne: Dass heute die vierte Wand eingerissen wird, wird einem schon von Anfang an bewusst. In der Mitte der Diskothek steht eine Käfigkonstruktion, das Publikum sitzt drumherum und wartet, dass es endlich bespielt wird.

Und dieses Spiel hat es tatsächlich in sich. Da werden die ganz großen Fragen des Theaters gestellt. Was kann Theater? Was darf Theater? Was muss Theater? Oder anders: kann, darf, muss es überhaupt etwas? Neben (dem natürlich echten und nicht durch einen Schauspieler ersetzten) Dieter Hundt begegnet uns auch Josef Ackermann, da kommt Hamlet auf die Bühne, dort klagt uns Prometheus sein Leid und einen Auftritt haben auch Patrick und Susan S., die uns in Sachsen durch ihre Inzestgeschichte nur allzu bekannt sind. Und über allem stehen die Forderungen, die Lotz in seinem Text formuliert, und die einem als Leipziger Theatergänger nur allzu bekannt vorkommen: Theater muss einen roten Faden haben, Theater muss politisch sein. Stücke müssen eine Handlung haben. Die Handlung soll sich sofort erschließen. Ein bisschen fragt man sich ja schon, ob Lotz nicht einige Zeilen aus den Kommentarspalten der LVZ übernommen hat. Denn man hört fast das Leipziger Bürger_innentum durch seine Sätze.

Und die Frage danach, was Theater muss, wird bei Lotz und bei Hartmanns Inszenierung rotzfrech mit einem erhobenen Mittelfinger beantwortet. Denn wie kann Theater etwas müssen, wenn schon die Regieanweisungen eigentlich unspielbar sind? Stattdessen erleben wir in gut 90 Minuten einmal Theater und wieder zurück. Da wird das Theater an sich gefeiert und trotzdem fällt das Stück niemals in bloße Selbstreflexion zurück, die mit Insidergags die Theaterlandschaft verschrecken will. Nein, das Stück schafft es tatsächlich, alle Forderungen, die aufgestellt werden sogar zu erfüllen. Aber, natürlich, nicht direkt sondern eher von hinten durch die Brust ins Auge, wie es so schön heißt. Dass sich beim ersten Mal sehen nicht alles daran erschließt, ist vollkommen klar. Und das ist es auch, was Theater ausmacht. Wer will schon Gefälligkeitstheater, was am nächsten Tag vergessen ist?

Natürlich, wenn man von oben drauf schaut, ist das Stück einfach nur irre. Es ist anstrengend; sowohl für die Darsteller_innen als auch für die Zuschauer_innen. Denn es ist hell, ja grell, es ist laut, es passiert viel auf einmal, es gibt eine absolute Reizüberflutung. Aber es ist auch ganz großes Theater, das einen zunächst noch kurz sitzen lässt, über das man auch nach zwei, drei, vier Tagen redet. Und was man auf jeden Fall nochmal sehen will. Sebastian Hartmann ist es zu verdanken, dass Wolfram Lotz‘ Text in Leipzig angekommen ist. Und – soviel Zeit muss sein – Enrico Lübbe ist es zu verdanken, dass das Stück auch nach der Intendanz von Hartmann noch aufgeführt wird. Danke für einen großen Theaterabend!

Der große Marsch. In der Inszenierung von Sebastian Hartmann. Nächste Vorstellung: 26.02.2014.


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