Krieg und Frieden – Theatervergnügen mit großem Anspruch

Der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, der Herbst hat uns im Griff. Das heißt also: die Sommerpause ist vorbei und es geht wieder ins Theater. Mit dem herrlichen Bunbury oder Ernst sein ist alles von den Cammerspielen steht wieder mal ein Besuch um Centraltheater an.

Sebastian Hartmann und sein Ensemble starten in ihre letzte gemeinsame Theatersaison gleich mit einem richtigen Spektakel – Krieg und Frieden steht auf dem Spielplan. Die Adaption nach Lew Tolstoi hat bereits bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen große Premiere gefeiert. Am 20. September war es dann endlich soweit und auch das heimische Leipziger Publikum war eingeladen, diesen besonderen Abend zu erleben.

Bereits vor dem Stück fällt die mit fünf Stunden doch recht üppig bemessene Spielzeit auf. Aber auch die literarische Vorlage ist mit ihren rund 250 Figuren, die sich auf mehr als 1600 Seiten gegenüberstehen, keine schnelle Kost. Eine Bemerkung, die für die Bewertung der Theateradaption von Relevanz sein könnte: ich habe das Buch (noch?) nicht gelesen. Das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht; denn oftmals hat man ja schon beim Lesen bestimmte Bilder und Szenen im Kopf, die dann doch nicht wie erwartet umgesetzt werden.

Allerdings wären die Bilder im Kopf wohl nur im ersten Akt des Stücks hinderlich gewesen. Denn dieser hat tatsächlich ganz untypisch Handlung, Figuren, Dialoge gehabt. Also richtig klassisches Theater, das sich an der Vorlage orientiert und diese mehr oder weniger nacherzählt. Dem Umfang der Vorlage entsprechend allerdings nur mit großen Auslassungen, die aber dem Verständnis nicht allzu sehr entgegenstehen. Der Akt ist stellt den Tod des Grafen Besúchow sowie die Handlungen seines Sohnes Pierre Besúchow und des Fürsten Andrej Bolkónski in den Mittelpunkt. Die klassische Inszenierung ist an dieser Stelle hilfreich, um das Themenfeld zu überblicken und in die Figuren einzuführen.

Im zweiten Akt löst sich Hartmann dann schon etwas von der Vorlage und inszeniert bruchstückhaft einzelne Szenen. Dabei verschmelzen auch die Figuren und es gibt keine eindeutige Zuordnung mehr. Das Ensemble spielt sich hier schon so richtig schön warm, einzelne Darsteller_innen übernehmen mehrere Rollen, Frauen spielen Männer – und das alles auf einer spartanischen Bühne, die fast gänzlich ohne Requisiten auskommt. Wir erleben hier einen klassischen Hartmann, der mal mehr mal weniger auf die Handlung pfeift und stattdessen die philosophisch-kulturelle Grundlage von Tolstoi in den Vordergrund stellt.

Während sich im zweiten Akt noch literarische Rudimente erkennen lassen, tut der dritte Akt gar nicht mehr so, als ob es eine Vorlage gäbe. Hier läuft die Inszenierung zu ihrer Hochform auf und präsentiert modernes Theater in all seinen Facetten. Jegliche Figurenkonstellation wird aufgelöst und statt eines Theaterstücks sehen wir eher ein philosophisch Quartett (bzw. ein Vierzehn-ett, wenn man die Anzahl der Darsteller_innen als Grundlage nimmt). Postdramatisches Theater reicht schon fast nicht mehr aus, um diesen dritten und letzten Akt der Inszenierung zu beschreiben; vielleicht sollte an dieser Stelle Post-Theater-Theater als Begriff verwendet werden. Das Ganz wird umrahmt von der Frage aller Fragen: Was ist Kunst, die in großer roter LED-Schrift über der Bühne schwebt. Und schließlich darf auch das Publikum mitdiskutieren, wenn die Darsteller_innen aus ihren Rollen ausbrechen und sie selbst werden. Oder besser gesagt: wenn sie eine Rolle annehmen, in der sie sich selbst spielen und damit doch wieder Darsteller_innen sind. Insgesamt also ein Akt, der anstrengend ist, der vielleicht provozieren will, der auf jeden Fall anders ist als vieles, was man bisher gesehen hat.

Krieg und Frieden in der Hartmann-Inszenierung ist nicht nur physisch herausfordernd aufgrund der Länge des Stücks sondern auch psychisch. Es ist vollgepackt mit Bildern und Referenzen, die mit einem Besuch nicht annähernd alle erfasst werden können. Nicht nur deshalb lohnt sich ein zweiter Besuch (der auch schon gekauft ist…). Auch technisch kann das Ensemble mal wieder rundum überzeugen und spielt hervorragend. Bemerkenswert außerdem, dass trotz der langen Spielzeit und der offensichtlichen Überforderung aller mentalen Fähigkeiten der Saal doch bis zum Schluss recht gut gefüllt bleibt. Nur wenige Sitze bleiben nach den beiden Pausen frei; und auch während der Inszenierung gibt es kaum flüchtendes Publikum zu sehen.

Dass Sebastian Hartmann auch ein Leipziger Publikum (auch wenn sicherlich Gäste von außerhalb im Publikum saßen) begeistern kann, hat sich am lang anhalten Schlussapplaus gezeigt. Völlig zu Recht wird das Ensemble minutenlang gefeiert. Zu einem lachenden Auge ob der grandiosen Inszenierung gesellt sich ein weinendes Auge ob der Leipziger Provinzpossen um diese Intendanz. Auch wenn es teilweise berechtigte Kritik an Aufführungen geben kann, werden wir den Mut und den Ideenreichtum von Sebastian Hartmann sicherlich bald vermissen!

Krieg und Frieden. Nächste Aufführungen: 26.10., 16.11., 24.11.


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