Marxexpedition 2012: Marx und die Grenzen der Dialektik

Karl Marx ist wieder in. Doch wie jede_r andere Wissenschaftler_in gibt es auch Kritik an Marx, die formuliert werden muss, um seine Thesen weiterzuentwickeln. Christoph Türcke sprach am 23.05.2012 im Rahmen der Veranstaltungsreihe Marxexpress 2012 über die Grenzen der Dialektik bei Marx.

Marxsche Lücken neu entdeckt

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe Marxexpedition 2012 hielt Christoph Türcke von der HGB Leipzig am 23.05.2012 eine Vorlesung zum Thema Marx und die Grenzen der Dialektik. Der große Kreis interessierter Zuhörer_innen hat den Hörsaal 2 recht gut gefüllt – ein Fakt, dem gerade in Zeiten um sich greifender Anwesenheitskontrollen doch etwas Aufmerksamkeit zugetragen werden sollte. Insbesondere, da es sich bei der Veranstaltungsreihe natürlich um keine Pflichtveranstaltungen für ein bestimmtes Studienfach handelt sondern um eine Weiterbildung auf freiwilliger Basis. Es kommt nicht überraschend und wird auch nicht zum ersten Mal festgestellt – aber Marx ist wieder aktuell.

In diesem Beitrag folgt eine Zusammenfassung der Aussagen Türckes. Der Komplexität des Themas geschuldet, kann dies nur fragmentarisch passieren. Da es um die Grenzen der Dialektik bei Marx geht, soll am Ende auch die Kritik nicht zu kurz kommen, d.h. die Frage soll gestellt werden: Was fehlt bei Marx und wo macht er sich angreifbar? Es hat sich gerade in der abschließenden Diskussion der Veranstaltung gezeigt, dass diese Herangehensweise nicht bei allen überzeugten „Marx-Jüngern“ gerne gesehen ist – aber wie sollen denn Ideen weiterentwickelt werden, wenn man sie nicht kritisieren darf? Denn trotz Marx‘ Weitsicht und seiner Aktualität sollte er nicht in eine Überposition erhoben werden, die unangreifbar ist!

Notizen zur Vorlesung

Die beiden großen Brocken Dialektik und Marx könnten schon für sich allein gesehen eine gesamte Vorlesungsreihe füllen. Aufgrund des offenen Charakters der Veranstaltung und um möglichst viele Menschen anzusprechen, ist es daher notwendig gewesen, einen etwas größeren Bogen zu spannen und nicht nur Marx zu fokussieren. Daher steigt Türcke mit einem kleinen Abriss zur Dialektik Hegels ein. Dessen Grundaussagen lebendig ist nur, was immer lebendig ist sowie die Gleichsetzung von Gott und Natur haben großen Einfluss auf den jungen Marx.

Neben Hegel hat es den jugendlichen und ungestümen Marx auch zu den Thesen Feuerbachs gezogen; u.a. war „Das Wesen des Christentums“ als Umkehrung Hegels Marx‘ „mentaler Katalysator“ (Türcke). Nach Feuerbach ist die Gattung das einzig Ewige und somit auch die Grundlage seiner Dialektik. Im Gegensatz zum Tier, das zu einer Gattung gehört, weiß der Mensch von seiner Gattung und kann demnach (bei entsprechender Geistesanstrengung) über seine bloße Zugehörigkeit hinauswachsen. Im Zuge der Feuerbachschen Religionskritik steht die Aussage im Raum, dass der Mensch Gott auf die Gattung projiziert und die Religion das kindliche Stadium der Menschheit darstellt. Daher stellt die Befreiung von der Religion den Prozess des „Erwachsenwerdens“ dar.

Die dritte Marxsche Inspirationsquelle, die Türcke anführt, ist Shakespeares Thinon von Athen. Grob zusammengefasst lebt dieser zur Zeit eines Währungsumschwungs; die zentrale Aussage, die Marx beeinflusst und die „Keimzelle seiner Geldtheorie“ (Türcke) ist demnach „So groß die Kraft des Geldes so groß ist meine Kraft“.

Nach Marx‘ Religionskritik entsteht die Religion durch Leiden und erzeugt Macht. Den Umschwung vom reinen Religionskritiker zum Autor des Kapitals schafft Marx, indem er feststellt, dass auch Geld Religion sein kann. Er definiert das Geld als das „entäußerte Vermögen der Menschheit“. Übernimmt man dieses Argumentationsmuster muss es (nicht nur nach Türcke) neben dem entäußerten Vermögen allerdings auch ein authentisches Vermögen geben. Diese Authentizität wird bei Feuerbach durch die Vernunft repräsentiert, bei Marx hingegen ist es die konkrete materielle Arbeit. Im Gegensatz zu Feuerbach vermutet Marx allerdings, dass die Gründe für das Geld als Religion nicht nur in der Kindlichkeit liegen können. Bei Marx ist Religion immer verkehrt („Opium für das Volk“) – also auch im Stadium der Kindlichkeit.

Daher stellt sich nun die Frage, was denn eigentlich vor dieser Verkehrung war, d.h. aus welcher Situation heraus ist die nach Marx verkehrte Welt entstanden und – vielleicht noch interessanter – warum ist es zu dieser Verkehrung gekommen? Im dritten Teil des Kapitals spricht Marx vom naturwüchsigen Kommunismus. Dies ist allerdings demnach eine dumpfe und raue Welt und kein erstrebenswertes Paradies, wie man meinen könnte. Niemand wünscht sich diese Welt zurück. Trotz der Kritikpunkte am naturwüchsigen Kommunismus ist dies keine verkehrte Welt, da es kein Geld gibt. Die Aufteilung von Gütern, z.B. Lebensmitteln, erfolgt direkt und sie werden nicht als Tauschmittel genutzt. Stattdessen ist ihr Gebrauchswert von alleiniger Relevanz.

Mit dem Auftauchen des Geldes hört dieser direkte Tausch auf und der Tausch basierend auf Waren entsteht – damit auch die verkehrte Welt. Der Warentausch beginnt zunächst an den Stammesgrenzen, da einzelne Stämme benötigte Waren untereinander austauschen. Der Tausch an sich ist allerdings keine per se schlechte Sache, da er (im Idealfall) für beide Seiten von Vorteil ist.

Auch ein dediziertes Tauschmittel (sei es Gold, Silber oder etwas völlig anderes) ist nach Marx nicht verkehrt, da dieses nur einen stabilen Maßstab für den Tausch darstellt. Marx definiert dies als Prozess fortschreitender Aufklärung und Stabilisierung. Da die verkehrte Welt also nicht bereits durch den Tausch entsteht, entsteht sie erst, wenn der Tausch mit dem Ziel der Geldvermehrung durchgeführt wird. Wenn also Geld zu Kapital gewandelt wird und aus der Formel WGW die Formel GWG‘ wird. Hier greift allerdings ein weiteres Paradoxon, da die Probleme bereits durch die Warenform als solche und damit durch den Fetischcharakter der Ware existieren. Denn damit werden ausgewählte Gebrauchsgüter (die Tauschmittel) mit Eigenschaften aufgeblasen, die sie gar nicht haben. Salopp formuliert: Was nützt mir ein Barren Gold in der Wüste, wenn ich kein Trinken habe?

Um diesem Widerspruch zu entgehen zieht Marx nun seinen Joker, wie es Türcke nennt: Der allgemeine Wert der Waren ist definiert durch die Arbeitszeit. Dadurch kann nun auch die Frage beantwortet werden, was denn das entäußerte Gattungsvermögen ist – es ist die verausgabte Arbeitskraft und nicht mehr das Geld wie früher. Mit Hilfe dieser Brücke lässt sich dann auch feststellen, dass schon in der Frühzeit, also im naturwüchsigen Kommunismus, alle Produkte einen Warenwert besessen haben.

Der Joker geht weiter: Da also alle Produkte in jeder Gesellschaftsform einen Warenwert besitzen, muss etwas anderes für die Umwandlung von Produkten in Waren notwendig sein: die Willenskraft. Wenn nun allerdings die Willenskraft alleiniger Antrieb dieser Umwandlung ist würde Arbeit an sich nichts in Ware umwandeln, was vorher keine Ware war. Dies steht im krassen Gegensatz zur sonstigen Herangehensweise bei Marx, wonach der Warenwert durch die Verausgabung von Zeit entsteht.

Damit sind wir auch bei der dialektischen Grenze von Marx angelangt. Die Diskussion darüber, dass Verausgabung von Arbeitszeit zur Warenform führt ist nach Türcke zu abstrakt. Marx denkt hier weniger dialektisch sondern durch die Gegenüberstellung von Zeit und Warenform vielmehr kartesisch. Die Dialektik nach Marx besteht demnach in der Bewegung vom (naturwüchsigen) Kommunismus hin zum Kommunismus. Die große Frage, wann und wo genau die verkehrte Welt angefangen hat, ist dabei allerdings schwer zu fassen.

Die Frage nach den Anfangs- und Endpunkten bildet dementsprechend den Kern der Kritik an der Dialektik bei Marx. Frei nach Horkheimer, der konstatierte, dass es bei Hegel an den Übergängen nicht geklappt hat, da dessen Arbeit zu wenig dialektisch war, lässt sich das gleiche bei Marx feststellen.

Um diesem Dilemma zu entfliehen empfiehlt Türcke, das Kapital nicht als Handlungsanleitung zu lesen sondern als Utopie. Denn die entscheidende Frage danach, wie Grund und Boden verteilt wird, lässt sich nicht ohne eine Verteilungsinstanz beantworten. Das Utopische besteht nach Türcke darin, anzunehmen, die Verteilung könne gerecht sein („Jede_r nach ihren und seinen Fähigkeiten!“). Dies ist allerdings nur als Kompass des Machbaren zu sehen, nicht jedoch als direkt Machbares. Die Utopie ist dabei nicht verkehrt, es muss aber stets bewusst bleiben, dass es sich eben um Utopie handelt. Um in Marx Kreislauf zu bleiben – vom Kommunismus zum Kommunismus – wäre demzufolge der Sturz des kapitalistischen Systems die Negation der Negation. Vollständig durchgeführt hört dies nicht bei der Verstaatlichung auf (wie im „real existierenden Sozialismus“) sondern erst bei der Vergesellschaftung.

Notizen zur Diskussion

In der anschließenden Diskussion sind zwei Fakten deutlich geworden. Zunächst hat sich anhand der Fragen gezeigt, dass es im Auditorium einen recht hohen Kenntnisstand bezüglich Marx gab. Die Diskussion wurde vor allem auf Grundlage der Interpretation einzelner Textpassagen geführt und es gab einige kritische Fragen und Anmerkungen zu Türckes Interpretationen des Kapital.

Hier spannt sich wieder der Bogen zum Anfang dieses Artikels. Denn der Titel des Vortrags „Grenzen der Dialektik“ sollte ja bereits klar genug sein, um zu wissen, dass hier gewisse Grenzen und vielleicht auch Fehler Marx‘ aufgezeigt werden. Dies hat Türcke auch in wissenschaftlichen Art und Weise getan. Nun muss man diese Meinung nicht teilen; trotzdem sollte die Kritik doch entsprechend vorgetragen werden, Hand und Fuß haben.

Stattdessen hat sich die Kritik leider darin erschöpft, einzelne Textpassagen aus dem Kapital zu rezitieren und damit Türcke anzugreifen. Dies geschah vor allem vor dem Hintergrund der Wiederentdeckung Marx‘ und einer – um in den Worten von Marx zu bleiben – Fetischisierung desselben. Türckes völlig berechtigter Einwand, die neuen Lesarten des Kapital sind teilweise Schönleserei, die Lücken in der Marxschen Logik schließen sollen, kann deshalb nur unterschrieben werden. Diese Aussage ist vor allem wissenschaftlich und nicht moralisch zu sehen, das heißt es gibt bei Marx – wie auch bei allen anderen Wissenschaftler_innen – Lücken und Diskussionsmöglichkeiten. Im Zuge einer guten wissenschaftlichen Auseinandersetzung und um Theorien weiterzuentwickeln muss auch eine kritische Auseinandersetzung mit Marx möglich sein. Denn soviel, wie sich am Kapitalismus kritisieren lässt, sollte diese Kritik doch stets damit verbunden werden, eine Alternative zu präsentieren. Und wenn wir eine löchrige Alternative entwickeln ist damit niemandem geholfen.

Fazit

Viel gehört, viel aufgeschrieben, viel mitgenommen – so lässt sich mein Eindruck der Veranstaltung kurz umreißen. Nach Türcke ist die große wissenschaftliche Lücke im Kapital also die Identifikation der Übergänge zwischen Kommunismus und Kapitalismus (und vielleicht auch wieder zurück). Dadurch wird es natürlich recht schwer, Wege aus dem Kapitalismus zu finden. Aber dies sollte niemanden davon abhalten, über Alternativen zur bestehenden Ordnung nachzudenken. Stattdessen sollte es als Herausforderung angesehen werden, die Deutungshoheit über gewisse Themen wiederherzustellen. So wie es bereits Sahra Wagenknecht gefordert hat. Machen wir uns also an diese Aufgabe und blasen dem neoliberalen Zeitgeist eine eigene Theorie entgegen, die sich zwar auf die alten Meister beruft aber nicht bei diesen stehenbleibt!


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