Péter Nádas – Parallelgeschichten

Nicht nur auf der Bühne gibt es Aufführungen in Marathonform – auch als Buch kann dieses Erlebnis nachvollzogen werden. Das ist zumindest Péter Nádas mit seinem Mammutwerk Parallelgeschichten gelungen. Dieses zeichnet auf 1728 Seiten die Geschichte der ungarischen Familie Demén aus Budapest nach. Nádas selbst wurde 1942 in Budapest geboren und arbeitete seitdem als Fotograf und Schriftsteller.

Parallelgeschichten ist nicht der erste große Roman von Nádas; 1991 erschien bereits das Buch der Erinnerungen auf deutsch, welches mit ca. 1300 Seiten einen ähnlichen Umfang besitzt. Im Vorspann dieses Buches erklärt Nádas, dass er parallele Erinnerungen verschiedener Personen niederschreiben wollte. Dementsprechend kann die elfjährige Entstehungsgeschichte des Buches der Erinnerungen als Vorgeschichte zur 18-jährigen Entstehungsgeschichte der Parallelgeschichten gesehen werden. Das Original erschien 2005 unter dem Titel Páarhuzamos történetek. Die Übersetzung von Christina Viragh im Februar 2012.

Gefeiert von der Kritik und angespornt durch das Austesten der eigenen Leidensfähigkeit in Bezug auf dicke Bücher habe auch ich mich auf dieses Werk eingelassen. Und was soll man sagen? Man muss Nádas auf jeden Fall zu einem großen Roman gratulieren und kann sein Durchhaltevermögen nur bewundern.

Die Geschichte der Familie Demén wird im Buch aus einer ganzer Reihe verschiedener Blickwinkel beleuchtet, wobei Nádas einen großen Bogen spannt, der mehrere Jahrzehnte umfasst. Ankerpunkte, um die das Geschehen kreist, sind der ungarische Aufstand von 1956, die frühen 1930er in Ungarn, die Vorwendezeit 1989 sowie die letzten Kriegsjahre 1944 und 1955. Dementsprechend tritt ein ganzes Panoptikum verschiedener Figuren auf, die zunächst isoliert erscheinen, sich dann aber zur angesprochenen großen Familiensage vereinigen. Wie der Titel es schon impliziert werden eine Reihe verschiedener Geschichten erzählt, die parallel ablaufen und sich teilweise gar nicht überschneiden, teilweise aber in späteren Kapiteln wieder zusammenfließen und damit ein gewisses Aha-Erlebnis auslösen. Aufgrund dieser parallelen Geschichten hat der Roman keine geschlossene Struktur sondern ignoriert eine durchgehende Handlung. Stattdessen gibt es zwischen Kapiteln große Schnitte und einmal eingeleitete Handlungsfäden werden erst viel später wieder aufgenommen. Manchmal auch gar nicht.

Die größte Spannung und das größte Lesevergnügen erzeugt Nádas bei der Beschreibung der Zustände in den letzten Kriegstagen, die tatsächlich sehr bildhaft sind und teilweise ein mulmiges Gefühl hinterlassen. Insbesondere die um sich greifenden antisemitischen Tendenzen und der in der Mitte der Gesellschaft (nicht nur Ungarns) angekommene biologische Rassismus sind Dinge, die erst mal verarbeitet werden müssen. An dieser Stelle erfüllt das Buch seine von Nádas selbst gesteckten Ziele – die literarische Verarbeitung dieses dunklen Zeitalters. Um noch tiefer in diese geschichtsträchtige Zeit einzutauchen empfiehlt sich Péter Nádas lesen: Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten, herausgegeben von Daniel Graf und Delf Schmidt.

Trotz dieser bildgewaltigen Sprache bleibt teilweise ein ermüdendes Gefühl beim Lesen zurück. Hier für mich vor allem an den Stellen, die die Kritik in den Olymp lobt. Nádas schreibt sehr körperlich und explizit; vor allem wenn es um erotische Phantasien und Erlebnisse seiner Figuren geht. Das ist auch in Ordnung, wird aber doch bei der dritten oder spätestens bei der vierten Wiederholung doch etwas langatmig. Auch auf die Gefahr hin, der gesammelten Intellektualität vor den Kopf zu stoßen: aber so was steht auch in jedem besseren (oder schlechteren) Bastei-Lübbe-Groschenroman. Mit etwas bösem Willen könnte man Nádas auch unterstellen, um der Provokation willen so geschrieben zu haben. An dieser Stelle muss der bekannte alte Spruch doch wieder hervorgeholt werden und weniger ist manchmal eben doch mehr. Auch wenn das Lesevergnügen stellenweise eher Krampf und Kampf war, habe ich doch alle Seiten gelesen und keine überblättert; und sei es nur, um nicht vom Buch besiegt worden zu sein.

Was lässt sich also mitnehmen? Die Parallelgeschichten sind auf jeden Fall eine Empfehlung wert und werden ihren Platz im Literaturbetrieb sicherlich finden. Man muss sich auf das Buch einlassen und sicherlich auch eine gewisse Leidensfähigkeit mitbringen können. Nádas‘ Erzählstil wechselt im Buch hin und her – was sicherlich der langen Entstehungszeit des Romans geschuldet ist. Dementsprechend gibt es immer Passagen, die man als großartig empfindet, worauf Passagen folgen, durch die man sich einfach durchkämpfen muss. Mit diesem Wissen im Hinterkopf kann Parallelgeschichten ein mehrmonatiges Lesevergnügen bereiten, das ganz neue Sichtweisen auf den modernen Roman bieten kann.

Péter Nádas – Parallelgeschichten, erschienen im Februar 2012 bei rowohlt. 1728 Seiten. 39,95 Euro.


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